Hier finden Sie eine kleine (anonymisierte) Auswahl von in den Schreibwerkstätten von »Szene & Schrift« entstandenen Texten.
Es sind allesamt Miniaturen, die innerhalb kurzer Zeit aus Schreibimpuls-Übungen hervorgegangen sind.
Übung »Ein Alltagsort«: DAS ABTEIL
Die Bänke stark gefedert, Brandflecken in den Polstern. Oben ein Netz, darin ein Schal, ein Rucksack, eine Zeitung. Unter dem Fenster, das sich herunterschieben lässt, ein Tisch.
Ich lege mein Brot darauf. »Das stört Sie doch nicht?«
Die Frau gegenüber schüttelt den Kopf, danach muss sie ihre Haare wieder hinters Ohr streichen. Neben mir das kleine Mädchen in Sandalen, dessen Füße nicht auf den Boden reichen. Der Mann, der nach Schnittlauch-Brezeln riecht. Zwischendurch der Schaffner. Und immer der Lärm – das Rattern der Schienen, das Quietschen der Bremsen. Stille nur am Bahnsteig, das Brummen der Diesellok hört man im hintersten Waggon nicht.
Die Frau lächelt nervös. „Fahren Sie auch bis Wuppertal?“
Ich sage: „Nein, nur bis Köln.“
Der Schaffner pfeift, die Drucklufttüren knallen. Ruckelnd setzt der Zug sich wieder in Bewegung.
Die Felder sind abgeerntet. Äpfel und Kürbisse, zu Gebirgen geschichtet, rotten im Dunst. Übers Schiebefenster rinnt Schwitzwasser.
Heute kein Halt in Hürth-Kalscheuren.
Übung »Figur im Bild«: ENNA
Tief in der Nacht, als das Anwesen wie in Samt eingeschlagen liegt, schleicht sie mit pochendem Herzen zur Tür. Eine Haarsträhne löst sich aus dem Dutt und fällt ihr vor die Augen. Sie schiebt sie flüchtig hinters Ohr und drückt die Klinke herunter. Die zweite Diele vor der Kammer knarzt seit Jahren, sie macht einen Schritt darüber und biegt nach links in den langen Flur ein. Finsternis umfängt sie.
Ihrer inneren Landkarte folgend tastet sich Enna voran. An der Tür vor Amalias „Amüsierzimmer“, wie sie es spöttisch nennt, holt sie tief Luft und gleitet mit dem Ausatmen durch die angelehnte Tür. Sie tastet nach der Stehlampe auf dem Pult, knipst sie an. Kurz blinzelt sie in die neue Helligkeit und eilt dann zum Schrank. Dort hat sie ein Päckchen versteckt. Darin ein dunkelrotes Tageskleid von Amalia, das sie einmal geschenkt bekommen, aber nie angezogen hat.
Enna streift die Schürze und den Unterrock ab, schlüpft in das Kleid. Spürt den weichen Stoff. In einer Geste plötzlicher Ruhe ordnet sie das vom Tag zerzauste Haar. Zum ersten Mal seit Wochen huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.
Sie fährt mit den Händen über das Schreibpult, setzt sich auf den Schemel, öffnet das darauf liegende Heft und setzt die Feder auf das Papier.
Übung »Erinnerungsbild aus der Natur«: DÄNEMARK
September 1987, Dänemark, 14 Grad, leichter Wind.
Es hatte gegrillte Forelle gegeben, dazu Pommes Frites und Bier. Sie hatten am Strand gegessen, die Möwen stießen schrille Freudenschreie aus über jeden Rest an Essen, der von der Plastikgabel in den Sand fiel. Das Meer schillerte dunkelgrau-blau, die Luft schmeckte salzig-feucht.
Zum ersten Mal seit Wochen war diese bleierne Schwere für wenige Augenblicke in den Hintergrund getreten, hatte begonnen, einer leisen Unbekümmertheit Raum zu geben, der er noch nicht recht über den Weg traute. Lucy und er hatten ihre Schuhe ausgezogen und waren wie aufgedrehte Kinder in Richtung der Wellen gerannt. Das Wasser war unerwartet kalt, er fühlte sich lebendig. Gibt es etwas Leichteres als ohne Schuhe am Meer zu laufen?
Auf dem Weg durch die Heide spürte er das kühle Gras unter den Fußsohlen und wünschte sich, dies könnte der Beginn von etwas Neuem sein.
Übung »Ein Gegenstand in diesem Raum«: SPRÜHSAHNE
Ich mag Sprühsahne, das ist nicht das Problem. Schon viele Besucher haben mich auf die Sprühsahne in meinem Kühlschrank angesprochen. Sie steht schon lange dort. Ich glaube, die Marke wird gar nicht mehr hergestellt.
In den Wochen nach ihrem Besuch habe ich tütenweise Marmorkuchen gekauft, einzig und allein mit der Absicht, endlich diese Dose leer zu sprühen. Doch letztlich aß ich meinen Marmorkuchen lieber trocken. Vielleicht kommt sie ja nochmal, dachte ich. Vielleicht backt sie einen Kuchen und kommt mich besuchen. Sie kam nicht. Die Hoffnung stirbt, Sprühsahne bleibt.
Lass uns die Dose verbrennen, schlug ein Freund neulich vor, das gibt eine schöne Explosion und du bist fertig mit der Geschichte. Das fand ich zu brutal. Auch wenn mir die Vorstellung eines Sahne-Regens gefiel.
Täglich prüfe ich das Haltbarkeitsdatum. An guten Tagen denke ich: Es ist noch Zeit. Viele Produkte sind auch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums genießbar.
Aber bei Sahne muss man vorsichtig sein.
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